Pflege – Mehr als nur Fürsorge

Wenn wir im Zusammenhang mit Gleichstellung über „Pflege“ sprechen, meinen wir nicht nur die medizinische Versorgung. Es geht um die oft unsichtbare und unbezahlte Sorgearbeit, die traditionell hauptsächlich von Frauen übernommen wird. Dazu zählen Kinderbetreuung, Haushalt, Pflege von Angehörigen und vieles mehr. Diese Aufgaben sind das Rückgrat unserer Gesellschaft, doch ihre ungleiche Verteilung schafft ein Problem: den Gender Care Gap.

Der Gender Care Gap: Die stille Ungerechtigkeit

Der Gender Care Gap beschreibt die ungleiche Verteilung unbezahlter Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern. Studien zeigen, dass Frauen in Deutschland, einschließlich Sachsen, deutlich mehr Zeit für diese Aufgaben aufwenden als Männer.

Frauen leisten täglich durchschnittlich 44,3% mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer, was etwa 79 Minuten pro Tag entspricht. Besonders groß ist die Lücke bei Paaren mit Kindern, wo Mütter 83,3% mehr Sorgearbeit leisten als Väter. Frauen mit geringerem Einkommen und solche in ländlichen Gebieten sind besonders betroffen.

Frauen, die mehr Sorgearbeit leisten, haben weniger Zeit für Erwerbsarbeit. Dies führt zu geringeren Einkommen (Gender Pay Gap), weniger Karrieremöglichkeiten und letztlich zu einer erheblich niedrigeren Rente im Alter – dem sogenannten Gender Pension Gap. Gleichzeitig reduziert der Gender Care Gap die Chancen auf eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und verstärkt die ökonomische Abhängigkeit von Frauen. Außerdem kann die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu gesundheitlichen Problemen der Sorgeperson führen. Der Gender Care Gap zementiert auch traditionelle Rollenbilder und verhindert Gleichberechtigung.

Ursachen des Gender Care Gaps

Die Ursachen für den Gender Care Gap sind komplex und tief in gesellschaftlichen Strukturen verwurzelt. Es sind nicht nur individuelle Entscheidungen, die zur ungleichen Verteilung von Sorgearbeit führen, sondern auch systemische und institutionelle Faktoren, die diese Ungleichheit aufrechterhalten. Dabei spielen traditionelle Geschlechterrollen, staatliche Rahmenbedingungen, finanzielle Anreize und gesellschaftliche Erwartungen eine entscheidende Rolle.

Traditionelle Geschlechterrollen und Stereotypen

Ein zentraler Faktor für den Gender Care Gap sind tief verwurzelte Geschlechterrollen und Stereotypen. In vielen Gesellschaften wird von Frauen erwartet, dass sie primär für die Sorgearbeit verantwortlich sind, während Männer als Hauptverdiener betrachtet werden. Diese Rollenzuschreibungen beginnen oft schon in der Kindheit und prägen die Lebensentscheidungen von Frauen und Männern. Frauen sehen sich deshalb häufiger in der Rolle der Pflegenden, während Männer sich auf ihre Erwerbstätigkeit konzentrieren. Diese traditionellen Rollenmuster werden oft nicht bewusst hinterfragt, sondern als „natürlich“ akzeptiert, was die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit weiter verstärkt.

Institutionelle Rahmenbedingungen

Auch institutionelle Rahmenbedingungen tragen erheblich zum Gender Care Gap bei. In Deutschland sind die Strukturen des Arbeitsmarktes, der Sozialversicherungssysteme und der steuerlichen Regelungen oft darauf ausgerichtet, ein „traditionelles Familienmodell“ zu unterstützen, bei dem ein Partner – meistens der Mann – Vollzeit erwerbstätig ist und der andere Partner – meist die Frau – sich stärker um die Familie kümmert. Ein Beispiel hierfür ist das Ehegattensplitting, das Ehepaare steuerlich begünstigt, bei denen ein Partner deutlich mehr verdient als der andere. Diese Regelung schafft finanzielle Anreize für eine ungleiche Verteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit.

Ebenso wirkt die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartner*innen in der gesetzlichen Krankenversicherung als Hindernis für eine eigenständige Erwerbstätigkeit von Frauen. Da sie durch die Mitversicherung abgesichert sind, besteht weniger Druck, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen. Diese Regelungen verfestigen bestehende Geschlechterrollen und erschweren es Frauen, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren oder eine Vollzeittätigkeit aufzunehmen.

Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitbeschäftigung

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die hohe Zahl von Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitbeschäftigungen bei Frauen, die sich um die Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen kümmern. Frauen unterbrechen ihre Berufstätigkeit häufiger und länger als Männer, was dazu führt, dass sie nach der Rückkehr in den Arbeitsmarkt oft in Teilzeit arbeiten. Diese Teilzeitbeschäftigungen sind oft schlechter bezahlt und bieten weniger Aufstiegsmöglichkeiten, was langfristig zu geringeren Einkommen und Renten führt. Dadurch wird die wirtschaftliche Abhängigkeit von Frauen verstärkt und der Gender Pay Gap weiter zementiert.

Mangelnde Betreuungs- und Pflegeinfrastruktur

Der Mangel an flächendeckender und erschwinglicher Kinderbetreuung und Pflegedienstleistungen verstärkt den Gender Care Gap zusätzlich. In vielen Regionen, insbesondere in ländlichen Gebieten, fehlen ausreichende Betreuungsplätze für Kinder und Pflegebedürftige oder die Kosten der vorhandenen Angebote sind für viele Familien unerschwinglich. In dieser Situation sehen sich viele Frauen gezwungen, die Pflege von Angehörigen oder die Betreuung von Kindern selbst zu übernehmen. Diese fehlende Infrastruktur zwingt vor allem Frauen dazu, ihre Erwerbstätigkeit einzuschränken oder ganz aufzugeben, was ihre wirtschaftlichen Perspektiven stark einschränkt.

Gesellschaftliche Normen und Erwartungen

Neben den institutionellen Rahmenbedingungen und der Infrastruktur spielen auch gesellschaftliche Normen und Erwartungen eine zentrale Rolle bei der Entstehung des Gender Care Gaps. In vielen Familien und sozialen Kontexten wird nach wie vor erwartet, dass Frauen die Hauptverantwortung für Haushalt und Familie übernehmen. Diese Erwartung wird nicht nur durch soziale Normen gestützt, sondern auch durch das Verhalten im persönlichen Umfeld. Frauen stehen daher oft unter dem Druck, diese Aufgaben zu übernehmen, selbst wenn sie selbst eine stärkere berufliche Orientierung haben. Diese sozialen Normen tragen dazu bei, dass Frauen in Sorgearbeit stärker eingebunden werden, während Männer sich eher auf ihre berufliche Laufbahn konzentrieren.

Geringe Anerkennung von Sorgearbeit

Ein weiteres Problem ist die geringe gesellschaftliche Anerkennung von Sorgearbeit. Ob es sich um die Pflege von Kindern, die Betreuung älterer Familienmitglieder oder die Haushaltsführung handelt – diese Tätigkeiten werden oft als selbstverständlich angesehen und nicht ausreichend wertgeschätzt. Unbezahlte Sorgearbeit findet im privaten Raum statt und bleibt häufig unsichtbar, was dazu führt, dass sie weniger Anerkennung und Unterstützung erhält als bezahlte Erwerbsarbeit. Diese mangelnde Anerkennung verstärkt das Ungleichgewicht weiter, da sie Frauen in die Rolle derjenigen drängt, die sich um diese Arbeiten „automatisch“ kümmern sollen.

Mögliche Handlungsoptionen

Es gibt viele Handlungsmöglichkeiten aus verschiedenen Perspektiven und Aspekten, um den Gender Care Gap zu verringern. Folgend werden einige Optionen aufgelistet.

Erwerbsarbeit

Um die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und unbezahlter Sorgearbeit zu verbessern, sind folgende Maßnahmen entscheidend:

  • Flexible Arbeitszeiten: Unternehmen sollten Modelle anbieten, die es Arbeitnehmer*innen ermöglichen, ihre Arbeitszeiten flexibel zu gestalten. Teilzeitarbeit, Gleitzeit oder Homeoffice-Lösungen können Eltern und pflegenden Angehörigen helfen, ihre Pflegeaufgaben mit der Erwerbsarbeit zu vereinbaren.
  • Förderung von Elternzeit für Väter: Um eine gleichmäßigere Verteilung der Sorgearbeit zu erreichen, müssen Väter stärker dazu ermutigt werden, Elternzeit zu nehmen. Anreize wie längere Elternzeit, die auch für Väter attraktiv ist, können helfen, traditionelle Rollenmuster aufzubrechen.
  • Entgeltgleichheit: Geschlechtergerechte Lohnstrukturen müssen gewährleistet werden, damit Frauen und Männer gleiche Chancen haben, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Maßnahmen gegen den Gender Pay Gap tragen dazu bei, den Gender Care Gap zu verringern.

Infrastruktur

Die Entwicklung und der Ausbau von Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen sind entscheidend, um die Belastung durch Sorgearbeit gerechter zu verteilen:

  • Ganztagsbetreuung für Kinder: Ein flächendeckendes Angebot von Ganztagsschulen und Kindertagesstätten erleichtert es Eltern, in Vollzeit zu arbeiten. Eine umfassende Kinderbetreuung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Reduzierung des Gender Care Gaps.
  • Pflegeinfrastruktur: Der Ausbau von ambulanten Pflegediensten und stationären Pflegeeinrichtungen entlastet pflegende Angehörige. Zusätzlich sollten niedrigschwellige Angebote wie Tagespflegeeinrichtungen gefördert werden, um eine flexiblere Pflegegestaltung zu ermöglichen.
  • Verkehrsanbindung und Erreichbarkeit: Eine gut entwickelte Infrastruktur in ländlichen Regionen, wie öffentliche Verkehrsmittel und Betreuungsangebote in erreichbarer Nähe, kann den Zugang zu Betreuungseinrichtungen erleichtern und Zeit für Erwerbsarbeit freisetzen.

Staatliche Leistungen

Staatliche Unterstützung ist zentral, um Familien und pflegende Angehörige finanziell und strukturell zu entlasten:

  • Pflegegeld und Familienpflegezeit: Pflegegeld und die Möglichkeit, Pflegezeiten in Anspruch zu nehmen, sind wichtige staatliche Leistungen, die pflegenden Angehörigen finanziell helfen können. Die Weiterentwicklung dieser Instrumente, zum Beispiel durch bessere Absicherungen während der Pflegezeit, ist notwendig.
  • Rentenansprüche für pflegende Angehörige: Pflegezeiten sollten stärker in der Rentenversicherung berücksichtigt werden, um Altersarmut bei pflegenden Angehörigen zu verhindern. Dies könnte durch eine Erhöhung der Rentenpunkte für Pflegezeiten geschehen.
  • Elternzeitregelungen: Die Elternzeitregelungen sollten so angepasst werden, dass sie mehr Anreize für eine gleichmäßige Inanspruchnahme durch beide Elternteile schaffen. Modelle wie das ElterngeldPlus, das die Teilzeitarbeit während der Elternzeit fördert, sollten weiter ausgebaut werden.

Soziale Normen: Geschlechterstereotype und Geschlechterrollenzuschreibungen

Um den Gender Care Gap zu verringern, müssen tradierte Rollenbilder und Geschlechterstereotype aufgebrochen werden:

  • Öffentliche Aufklärungskampagnen: Es braucht Kampagnen, die die Bedeutung der gleichberechtigten Aufteilung von Sorgearbeit betonen. Solche Kampagnen sollten Männer gezielt ansprechen und die Vorteile einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung hervorheben.
  • Bildungsarbeit: Schon in Schulen sollte Geschlechtergerechtigkeit im Unterricht thematisiert werden. Pädagogische Programme, die sich mit der gleichberechtigten Verteilung von Hausarbeit und Pflege befassen, tragen dazu bei, Geschlechterstereotype früh zu hinterfragen.
  • Vorbildfunktionen und Role Models: Bekannte Persönlichkeiten und Vorbilder, die eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit vorleben, können in der Gesellschaft als positive Beispiele dienen und dazu beitragen, dass sich traditionelle Rollenbilder wandeln.