Was ist die Reformmodebewegung?

Mit dem Überbegriff Reformmodebewegung werden verschiedene Bestrebungen zusammengefasst, die sich zwischen circa 1850 bis 1915 kritisch mit Bekleidung, vor allem der Frauenmode, auseinandersetzten. Diese internationale Bewegung war jedoch keineswegs eine geschlossene: Ärzt*innen, Lebensreformer*innen, Künstler*innen und nicht zuletzt Frauen* und Frauen*vereine beteiligten sich an der Debatte um eine Reform der Mode mit zum Teil sehr unterschiedlichen Forderungen. Während einige Akteur*innen die Abschaffung von physischen Einschränkungen und Belastungen durch formende Unterbekleidung wie Korsett und Reifrock sowie schwere, auf dem Boden schleifenden Stoffmassen forderten, waren andere auf zeitgemäße Gestaltung fokussiert. In der Kritik stand auch der schnelle Wechsel von Modetrends und der damit zusammenhängende Verfall von Qualität in Material und Fertigung sowie der Einsatz von gesundheitsschädigenden Färbemitteln und schlechte Waschbarkeit.

Um 1900 war die konventionelle Damenmode auf Repräsentation ausgelegt. Optisch teure Kleider nach der neusten Pariser Mode aus farbintensiven Stoffen reduzierten die Frau* zur Dekoration am Arm eines Mannes*, der über sie* seinen Wohlstand zur Schau stellte. Von zu dekorativ-überbordenden Kleidern wollten sich viele Künstler*innen lossagen, und eine moderne, künstlerisch gestaltete Mode im Sinne des Jugendstils finden. Es sollte viel Wert auf hochwertiges Material und handwerklich einwandfreie Verarbeitung in Abgrenzung zu industrieller Massenfertigung gelegt werden.

Gerade für alleinstehende und beruflich ambitionierte Frauen* war eine rein dekorative Mode nicht mehr zeitgemäß und zweckmäßig. (Unverheiratete) Frauen* waren aus wirtschaftlichen sowie aus Gründen der Selbstverwirklichung zunehmend auf die Ausübung eines Berufes angewiesen – wozu auch eine passende, professionelle Kleidung benötigt wurde. Aber auch sportliche Freizeitgestaltung und die entsprechende Kleidung sowie der Ausdruck der Individualität wurde Ende des 19. Jahrhunderts relevant. Hier setzten Frauen* und Frauen*vereine an, überlegten Konzepte und verfassten Richtlinien, worauf bei der Findung moderner Kleiderformen geachtet werden sollte.

Der 1896 in Deutschland gegründete Verein für Verbesserung der Frauenkleidung hielt beispielsweise sechs Bedingungen fest:

„Vereinfachung der Unterbekleidung. Entlastung der Hüften. Erhaltung der natürlichen Form des Körpers. Freie Gestaltung des Obergewandes mit Anlehnung an die Mode. Verkürzung des Straßenkleides. Wir verwerfen dagegen jede Art der Uniformierung“ [1].

Das Vereinsmotto lautete: „Gesund, praktisch, schön!“. Gesundheitliche Aspekte beschäftigten im Zusammenhang mit der Mode auch Ärzt*innen. Neben bekleidungsphysiologischen Problemen stand das Korsett und dessen enge Schnürung im Fokus der Auseinandersetzung. Doch was zunächst feministisch-solidarisch wirkt, enttarnt sich beim Lesen einiger dieser historischer Schriften schnell als pseudowissenschaftlich bis sogar rassistisch. Fiktive Zeichnungen von Frauenkörpern sollen Deformationen beweisen und werden mit Fotografien von angeblich „primitiven Naturvölkern“ verglichen. Dabei steht stets die Gebärfähigkeit im Zentrum der Betrachtung und nicht die Bewegungsfreiheit oder die freie Entscheidung der Trägerin* [2]. Andere Ärzt*innen hingegen waren gegen die Abschaffung des Korsetts, da die Rückenmuskulatur der Frauen verkümmert sei und den Rücken nicht alleine stabilisieren könne [3].

Beim Thema Korsett scheiden sich sowohl historisch als auch in aktuellen Diskursen die Geister: Schafft das Korsett eine Entlastung für den Rücken effektiver als jeder moderne BH oder ist es physisch wie symbolisch eine Einschränkung der Freiheit der Frau*? Aufgrund seiner starken Symbolkraft wird die Modereformbewegung oft auf die Abschaffung des Korsetts reduziert. Dabei wurde die „Korsettfrage“ nicht einheitlich beantwortet und war lediglich eine von vielen Aspekten, die innerhalb der Modereformbewegung zur Diskussion standen.